Ein Zug rauschte pfeifend vorbei. Die Leute quetschten und rempelten, nur ihr nächstes Ziel im Auge. Nur um zum nächsten Bahnsteig zu gelangen und um dann doch noch 10 min stehend und frierend warten zu müssen. Geschaukelt und durchgeschüttelt von anderen drängenden Leuten. Es herrschte ein unerträglicher Lärmpegel. Vervielfacht zurückgeworfen und verfremdet durch die kathedrale Decke des Sackbahnhofes. Ein bizarres Geflecht aus Stahlträgern, Stockwerken fulminanter Einkaufspassagen und vom Schmutz undurchsichtigem Glas. Ich stand ganz still. Wie unter einer Glocke und schnappte nach Gesprächsfetzen und Bildern. Eine Mutter zog ihr schreiendes Kind heftig am Arm. Eine lärmende, nach Bier und Zugklo stinkende Meute Halbwüchsiger zog brüllend und wild gestikulierend vorbei. Plötzlich flog meine Aufmerksamkeit weg von dem Getöse und landete bei zwei Gestalten, die sich schräg hinter mir gedämpft unterhielten. Ihr Ton klang vertraut. Es waren Frau Gut und Herr Schön. Beide waren in dunkle weite Lodenmäntel eingehüllt und trugen breitkrempige Filzhüte. Von einem tropfte unablässig tauender Schnee, der sich in der Krempe angesammelt hatte. Sie erweckten nicht den Eindruck, als wollten sie irgendwohin.
Die Ohren sperrangelweit auf, erhaschte ich einen Gesprächsfetzen. „… nein, nein! Das ist es nicht! Du bist so darauf fixiert, den Moment einzufangen und ihn hübsch einzutüten. Das machst du nur, damit du ihn in deiner Zukunft beim Zurückblicken wiedererkennst.“ Frau Gut schmollte: „Ja und? Das ist es ja gerade. Bewusst leben heißt, dass Jetzt so zu konservieren, dass man sich länger daran erfreuen kann.“ Ein Zug fuhr ein und verschluckte jede Möglichkeit, weiter zuzuhören.
Ich versuchte so unauffällig wie möglich einen Schritt nach hinten zu machen. Und noch einen. „… du sammelst Erinnerungen! ...“ Und noch einen klitzekleinen Schritt… „Hey!“ Ich hatte Herrn Schön angerempelt. Ich murmelte eine Entschuldigung und tat so als wäre ich von der vorbeiströmenden Menge geschupst worden. Doch Herr Schön achtete schon nicht mehr auf mich.
„Frau Gut! Es kann nicht sein,…“ Er betonte jedes einzelne Wort. „… dass sie den Augenblick nur dazu benutzen, um ihn einzufrieren. Sie verbringen das Hier und Jetzt damit an ihre Vergangenheit in ihrer Zukunft zu denken. Einfrieren ist nicht erleben.“ Er schien sehr zufrieden mit sich, etwas so schön auf den Punkt gebracht zu haben. Frau Gut protestierte halbherzig, doch mir schien, dass es ihr mehr um ihre Ehre ging, sie es aber schon so gut wie eingesehen hat. „Ja aber, wenn ich mich darauf konzentriere, mir den Augenblick einzuprägen, mache ich ihn mir doch bewusst. Ansonsten fliegt er einfach vorbei und ist für immer verloren.“ „Ja, ja, Frau Gut, und wenn sie mal alt und klapprig sind, stellen sie sich eine schöne frisch aufgebrühte Tasse Tee auf ihr antiquares Nähmaschinentischchen, schlagen die alten Beine übereinander, sofern sie die fortgeschrittene Osteoporose nicht davon abhält und blättern gemütlich im Fotoalbum ihrer Augenblicke.“ Frau Gut konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ich konnte sie zwar nicht sehen, hörte es ihrer Stimme aber an. „Eigentlich hatte ich mir das ungefähr so vorgestellt, ja. Wieso auch nicht?“ „Wieso nicht?“ Herr Schön nahm sich einen Moment, um seine Ungeduld zu zügeln. Er zeigte deutliche Anzeichen, sich in was reinzusteigern. „Sie leben am Leben vorbei! Sie kucken sich ihr Leben auf einer Leinwand an! Hören sie,…“ Er atmete hörbar aus. „In Wahrheit klammern sie sich an den Wunsch, die Augenblicke festhalten zu können. Sie verlängern zu können. Wenn sie sich aber die Endlichkeit aller Dinge bewusst machen, sie ganz und gar anerkennen, dann fühlen sie den wahren Wert des Augenblicks. DAS bedeutet Hiersein.“ „Der Wert liegt in seiner Vergänglichkeit“ wiederholte Frau Gut nachdenklich.
2 comments:
harte worte, herr schoen!
Neulich hatte ich ein Gespräch mit einem Kollegen. Draußen war wundervolles Wetter (der Schnee glitzerte, blauer Himmel, Sonnenschein kitzelte in der Nase, ...) und ich meinte, ich würde lieber draußen sein. Er meinte, er wüßte nicht, was er draußen mit sich anfangen sollte, er könne das in seinem Alter nicht mehr so genießen wie frühen. Er würde sich langweilen. Das könnte mir nicht passieren! Mir reicht es völlig den Moment zu genießen. Augen zu, Sonnenstrahlen spüren, die die Haut erwärmen und durch die geschlossenen Augenlider dringen, die kalte, frische Luft in tiefen Zügen ein- und ausatmen, die Vögel zwitschern hören! Das innere Gleichgewicht herstellen! Den Ruhepol suchen, Gedanken schweifen lassen, ...
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