Mama Flamingo sagte zum wiederholten Mal, stell dich endlich auf das zweite Bein! Wie oft soll ich es noch sagen!
Ich stand zum ersten Mal fehlerfrei. Kein Federchen zitterte. Ich war die Ruhe in Person. Viel kleiner als die anderen der Clique reichte ich meinen Verwandten, die am nächsten standen, gerade mal bis ans knubblige Gelenk. Aber ich stand. Bestimmt schon satte 2 Tage. Damit verstieß ich gerade gegen alle Regeln der Kunst. Man hatte je nach Größe des Auftrittspunktes die Maximalzeit des Einbeinstehens unbedingt einzuhalten. Mein Auftrittspunkt war natürlich aufgrund meines zarten Teenageralters besonders gering. Hinzu kam eine besonders stark ausgebildete, nach hinten gerichtete Zehe. Die sogenannte Hornhacke war nicht sehr weit verbreitet. Man vermutet darin den Beweis dafür, dass sich in unsere Vorfahren unziemlicherweise ein Nashornpelikan hineingemogelt hat. Das würde auch die unglaublich Naschsucht einiger Artgenossen erklären...
Mir verschaffte das den enormen Vorteil, rekordverdächtige Ewigkeiten auf einem Bein stehen zu können. Das konnte im Falle eines Wachstumsschubes zu Problemen führen. Was wenn mein vernachlässigtes, in die Bauchfedern gezogenes Bein den Wachstumsschub verschlief. Dann konnte ich das Zweibeinstehen für immer vergessen. Trotzdem genoss ich die neidvollen Blicke der Anderen. Ich wurde schon als zukünftiger Olympiasteher gehandelt...
In diese Gedanken drang nun allzu deutlich die Stimme meiner Mutter, der schon der weiße Muttersorgenschweiß durchs Federkleid drang. Sie sah schon ganz blassrosa aus, obwohl sie eher zu den kräftig gefärbten Exemplaren gehörte. Ich murmelte geistesabwesend und vor Erschöpfung schon ein klein wenig schwach: Nur noch 5 Minuten. Dann sah ich Mama fahrstuhlgleich in die Höhe gleiten. Das war ungewöhnlich und ich blickte um mich. Auch die anderen erschienen mir höher als noch vor 5 Minuten. Dann bemerkte ich es. Nicht sie stiegen nach oben, sondern ich bohrte mich nach unten. Ich hatte das Gesetz gebrochen und nun gehorchte mein Fuß samt Ferse, mein Bein, mein Körper, ich in Gänze bis hinauf zum nun senkrecht emporgereckten hochspezialisierten Schnabel samt Zungenapparat dem Gesetz der Einpunktaufstandsphysik. Punktbruchversagen. Ohne Vorankündigung. Um mein bereits bis zum Knubbelgelenk eingesunkenem Bein bildete sich im Boden ein kraterartiger Kegel. Immer mehr Sandkörnchen kullerten mit immer größerer Geschwindigkeit in den sich ausweitenden Schlund unter mir. Ich begriff erst, was geschah, als die Erde schon meinen kleinen überraschten Körper verschluckt hat. Ich erhaschte noch einen letzten Blick auf meine trauernde Mama, dann begann meine Reise durch den Planeten.
Dies ist die erste Geschichte einer Reihe mit dem Titel "Nur noch 5 Minuten". Diese aufklärerische Mission soll aufdecken, zu was diese harmlos erscheinenden Worte führen können. Erkenntnis Nr. 1: zu Abenteuern.
Das Foto ist flickr entlehnt und hier zu finden.
1 comment:
"Nur noch 5 Minuten" - das ist bei mir immer der erste Gedanke des Tages.
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